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Interview mit Petra Grimm-Benne

Petra Grimm-Benne ist Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin und Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz (GMK). Warum sie glaubt, dass digitale Gesundheits-Apps noch besser werden müssen und klassische Therapieformen auch weiterhin Bestand haben, erklärt sie im Interview.

 

Frau Grimm-Benne, etwa ein Drittel der Menschen in Deutschland (35 %) nutzt digitale Gesundheitsangebote wie Fitness- oder Ernährungs-Apps. Neun von zehn Personen, die solche Apps nutzen (88 %), glauben an ihre Wirkung – eine recht hohe Zahl. Brauchen wir mehr Anreize für die Verwendung digitaler Gesundheits-Apps?

Die Skepsis gegenüber der technischen Entwicklung – vor allem bezogen auf den Datenschutz – ist nach wie vor groß und der Markt der Anbieter ist unübersichtlich. Im deutschsprachigen Raum können wir unter rund 10.000 Apps auswählen. Deshalb ist es gut, dass es seit Oktober 2020 auch Apps auf Rezept gibt, zum Beispiel bei depressiven Episoden, leichten Angststörungen, Stress oder Adipositas. Es ist wichtig, dass mehr Menschen an der Entwicklung teilhaben können und Zugang zur erforderlichen Technik bekommen. Mehr Anreize allein werden nicht ausreichen. Die Apps müssen auch benutzerfreundlich gestaltet sein, quasi barrierefrei. Ein Beispiel aus Sachsen-Anhalt: Die neotiv®GmbH – eine Ausgründung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg – hat 2019 in einem Bürgerforschungsprojekt eine freie Version der neotiv-App zur Verfügung gestellt. Sie ermöglicht das Absolvieren von kognitiven Tests und die Teilnahme an einer Studie zur Erforschung von spezifischen Gedächtnisfunktionen. Die Testungen bieten keine Diagnose oder Therapieempfehlung, vielmehr eine Gedächtnisvorsorge. Ziel ist es, die mit dem Alter zu erwartende Abnahme der Gedächtnisfunktion durch Hinweise auf eine Veränderung des Lebensstils zu verlangsamen.

 

Zwei von fünf Menschen (42 %) sind der Auffassung, dass digitale Angebote wie psychotherapeutische Online-Kurse bei der Behandlung von psychischen Belastungen sinnvoll sein können. Werden und sollen digitale Angebote die Psychotherapie zukünftig ersetzen?

Natürlich werden digitale Angebote keine klassische Therapie ersetzen können. Begegnung, ein direktes körperliches Gegenüber, Mimik und Gestik spielen eine wichtige Rolle und können nicht ohne weiteres in ein Online-Verfahren übertragen werden. Aber digitale Tools können ergänzend eingesetzt werden. Sie können ein niedrigschwelliges Angebot sein, sich Hilfe zu suchen.

 

Viele Menschen in Deutschland warten sehr lange auf einen Therapieplatz. Gerade hier sehen die Menschen den größten Vorteil von psychotherapeutischen Online-Kursen (37 %). Sind die Apps Lösung oder Symptom eines Versorgungsproblems?

Apps allein können natürlich nicht ein Versorgungsproblem lösen, da es schlichtweg zu wenig Therapeuten gibt. Dabei ist nicht zu vergessen, dass psychische Erkrankungen enorm zugenommen haben, wie verschiedene Untersuchungen und die Erhebungen der Krankenkassen zeigen. Diese Entwicklung gab es schon vor Corona und sie ist durch die Pandemie noch einmal verstärkt worden. Dies muss natürlich bei den Überlegungen zur zukünftigen Ausgestaltung der psychotherapeutischen Versorgung berücksichtigt werden. 

 

Drei Viertel der Menschen in Deutschland (76 %) sagen, dass Social Media sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt. Bedarf es mehr Maßnahmen, um diesem Problem zu begegnen?

Mir ist es wichtig, dass Kinder von Anfang an lernen, verantwortungsbewusst mit digitalen Medien umzugehen. Nur wer im realen Leben gut vernetzt ist, kann sein soziales Leben auch gut auf Social Media ausleben. Es ist wichtig, Kinder und Jugendliche nicht allein zu lassen und ihnen ein analoges Leben in einer aktiven Gemeinschaft vorzuleben. Hier muss sicherlich auch vielen Eltern ihre Rolle als Vorbildperson wieder bewusster werden. Jugendliche sollten in der Schule lernen, wie Social-Media-Kanäle zu bewerten sind, dass sie das Alltagsleben enorm beeinflussen und verändern können, dass nirgendwo sonst so schnell Falschinformationen verbreitet werden und krankmachende Abhängigkeiten entstehen können. Ich sehe aber auch eine Verantwortung bei den Betreibern solcher Plattformen. Wo immer Hass, Gewalt, Erniedrigung, Herabwürdigung auftauchen, stehen sie in der Pflicht, die Inhalte unverzüglich zu löschen. Natürlich sind auch weiterhin spezielle Hilfen und Beratungsangebote wichtig, um denjenigen zu helfen, die Hilfe benötigen. 

 

Gerade in der Coronapandemie haben wir erfahren, wie schmerzlich der Verlust von persönlichem Kontakt ist. 60 % der Menschen in Deutschland sehen den Verlust des persönlichen Kontaktes auch als den größten Nachteil, wenn es um die Nutzung digitaler psychotherapeutischer Angebote geht. Teilen Sie diese Einschätzung?

Insgesamt hat die Pandemie uns allen viel abverlangt. Vor allem die notwendigen Kontaktbeschränkungen haben viele Menschen enorm belastet, gerade auch diejenigen, die psychotherapeutische Hilfe benötigen. Ein persönlicher Kontakt ist durch nichts zu ersetzen. In Beratungen und Therapien hat der Austausch mit einem anwesenden Gegenüber eine noch viel höhere Relevanz. Deshalb verstehe ich, dass gerade in diesem Bereich so viele Menschen unter den Einschränkungen von persönlichen Kontakten leiden.

 

Mehr Anreize allein werden nicht reichen.“