Zum Hauptinhalt springen

Interview mit Dr. Hanne Horvath

Dr. Hanne Horvath hat das Startup HelloBetter gegründet, das Menschen mit psychischen Belastungen durch digitale Angebote unterstützt. Warum digitale Angebote noch keinen flächendeckenden Ersatz für herkömmliche Therapien bieten, aber trotzdem einen wertvollen Bestandteil der Gesundheitsversorgung darstellen, erklärt sie hier. 

 

Ein Drittel der Menschen zwischen 25 und 34 Jahren (29,2 %) nutzt digitale Angebote zur Verbesserung der mentalen Gesundheit. Wenn es um körperliche Gesundheit geht, ist es sogar jede*r Zweite (55,1 %). Ältere Menschen sind deutlich zurückhaltender. Warum sprechen digitale Angebote eher junge Menschen an und was muss getan werden, um auch ältere Menschen für digitale Anwendungen begeistern zu können?

Blicken wir auf die letzten zwanzig bis dreißig Jahre, so hat die digitale Transformation alle Bereiche unseres täglichen Lebens grundlegend verändert und einen rasanten gesellschaftlichen Wandel befeuert. Die Mehrheit der jungen Generation bewegt sich ganz selbstverständlich in der digitalen Welt und spätestens seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie entdecken auch Ältere sie immer mehr für sich. Wir bei HelloBetter können das bestätigen: Die Menschen kommen zu uns, weil der Leidensdruck so groß ist und weil unsere digitalen Therapieprogramme für Viele die einzige Hilfe sind, die sie zeitnah bekommen. Die Nutzerinnen und Nutzer unserer Therapieprogramme sind im Durchschnitt 45 Jahre alt. 

Ich bin fest davon überzeugt, dass ohne die Altersbeschränkung für viele DiGAs durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) deutlich mehr Senior*innen digitale Gesundheitsanwendungen nutzen würden. Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen dürfen viele digitale Gesundheitsanwendungen, die vom Bundesamt für Arzneimittel gelistet wurden und für alle gesetzlich Versicherten in Deutschland auf Rezept verfügbar sind, nur an Patient*innen bis zu einem Alter von 65 Jahren verschreiben. Ich würde eine Überarbeitung dieser Altersbeschränkung stark befürworten, auch im Hinblick auf den demografischen Wandel: Denn trotz der gestiegenen Zuwanderung der letzten Jahre werden in Deutschland in Zukunft deutlich mehr ältere Menschen leben. Bereits im Jahr 2030 wird die Hälfte der Bevölkerung älter als 48 Jahre sein und die Zahl der über 80-Jährigen im Vergleich zu heute um über 2 Millionen Menschen ansteigen. 

 

41,2 % sehen mangelnde Wirksamkeit als das zweitgrößte Risiko in Bezug auf psychotherapeutische Onlinekurse (nach dem Verlust des persönlichen Kontaktes). Von den Menschen, die digitale Anwendungen für die Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit nutzen, sind hingegen 92,1 % von ihrer Wirksamkeit überzeugt. Woher kommt die Skepsis gegenüber E-Health Angeboten? Braucht es einheitliche Qualitätsstandards und Validitätsprüfungen?

Angst, Stress und Depressionen haben während der Pandemie stark zugenommen und so ist auch das Interesse an digitalen Anwendungen zur Linderung psychischer Beschwerden stark angestiegen. Immer mehr Menschen informieren sich im Internet über Online-Therapien und merken, dass es sehr viele Angebote gibt – das ist erstmal eine gute Nachricht. Das Problem ist aber, dass die Qualität dieser Angebote oft nicht sichergestellt oder klar erkennbar ist. Wir bei HelloBetter haben von Tag eins an einen starken Fokus auf das Thema Wirksamkeit gelegt und sind stolz darauf, der Digital-Health-Anbieter mit der größten Evidenz weltweit zu sein: Für unsere digitalen Therapieprogramme zur Behandlung psychischer Beschwerden haben wir bereits über 33 kontrollierte klinische Studien durchgeführt.

Auch die Qualitätsstandards und Validitätsprüfungen im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes helfen dabei, Betroffenen, Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen die Skepsis in Sachen digitale Gesundheitsanwendungen zu nehmen: Schließlich müssen Herstellende psychologischer Online-Trainings, die in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen werden möchten, einen ausreichenden Nachweis über die positiven Versorgungseffekte ihrer Produkte liefern. Anwendungen, die diesen Nachweis bei Beantragung erbringen, können dauerhaft ins DiGA-Verzeichnis aufgenommen werden. 

Es gibt jedoch auch die Möglichkeit, ohne vorliegenden positiven Versorgungsnachweis vorläufig im DiGA-Verzeichnis gelistet zu werden. Der Wirksamkeitsnachweis muss dann innerhalb eines Jahres nachgereicht werden. Das bedeutet, dass auch digitale Therapieprogramme ohne ausreichende Evidenz vorläufig verordnet werden können. Ob sie einen tatsächlichen positiven Nutzen für das Versorgungssystem haben, bleibt in diesem Fall vorerst unklar. Es ist daher sehr wichtig, bei der Auswahl der Trainings auf einen bereits vorliegenden Wirksamkeitsnachweis zu achten. 

Leider gibt es auf dem Markt jedoch zahlreiche unseriöse Anwendungen, die keinen positiven Beitrag leisten oder gar den Gesundheitszustand deutlich verschlimmern können. Viele Menschen stehen außerdem rein digitalen Gesundheitsanwendungen ohne menschliche Komponente skeptisch gegenüber. Bei uns hat jede Nutzerin und jeder Nutzer deshalb einen persönlichen Coach, der ihnen regelmäßig Rückmeldung gibt. Kein Algorithmus kann so zuverlässig wie ein psychotherapeutisch geschulter Mensch erkennen, ob sich z. B. eine depressive Phase gerade verschlimmert.

 

Ist eine flächendeckende Anwendung Ihrer Meinung nach erstrebenswert? Sollen Online-Angebote herkömmliche Therapien künftig ersetzen?

Digitale Angebote sind kein Ersatz für die herkömmliche Face-to-Face-Therapie, und es fehlt an niedergelassenen Psychotherapeut*innen. Von hundert Menschen, die psychotherapeutische Hilfe benötigen, suchen gerade einmal 19 eine psychotherapeutische Sprechstunde auf. 81 % erhalten also keine fachkundige Hilfe und manche ertragen ihre Beschwerden jahrelang. In der Regel kommt es dann zu einer Chronifizierung. Die Therapie beginnt, wenn überhaupt, viel zu spät und dauert oft länger. Wertvolle Zeit verstreicht auch bei denen, die ihre Scham überwinden und sich helfen lassen wollen: Schon vor Corona mussten sie im Durchschnitt sechs Monate auf einen freien Therapieplatz warten, wenn sie überhaupt einen bekommen haben. Seit Corona sind die Anfragen bei Psychotherapeut*innen um 40 % gestiegen. Weltweit haben Depressionen und andere psychische Erkrankungen um mehr als 25 % zugenommen. Zudem liegt aufgrund fehlender Nachsorge im ersten Jahr nach der Therapie die Rückfallquote bei 30 bis 40 %. Betroffene brauchen nach Abschluss der Therapie Unterstützung, um die gelernten Inhalte zu festigen und in den normalen Alltag einzubauen.

Viele Betroffene, die unter psychischen Beschwerden leiden, haben außerdem das starke Bedürfnis, selbst etwas dagegen zu tun.

Online-Therapien, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt sind, können all diese Lücken schließen, indem sie zeitnahe Hilfe bei psychischen Beschwerden ermöglichen. Betroffene können die Zeit bis zum Beginn einer Face-to-Face-Therapie überbrücken und Unterstützung im Rahmen der Nachsorge erhalten. Im besten Fall nutzen Therapeut*innen die digitale Anwendung schon während der Behandlung als Ergänzung und danach im Rahmen der Nachsorge.

Digitale Anwendungen zur Behandlung psychischer Beschwerden helfen dabei, Menschen viel früher zu erreichen und reduzieren die Hemmschwelle deutlich. Je früher eine Behandlung beginnt, desto zugänglicher sind die Betroffenen.

 

Wo sehen Sie die größten Chancen in Bezug auf digitale Gesundheitsangebote? Liegen sie in der Prävention oder in der Behandlung von körperlichen oder psychischen Krankheiten? Warum?

Digitale Gesundheitsanwendungen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt werden konnte, bieten große Chancen für eine Bandbreite von Ausgangssituationen – von Prävention über die Linderung leichter Beschwerden sowie das Auslagern spezifischer Themen bis hin zur Nachsorge.

Nicht immer stellt sich im Zuge des Erstkontakts oder der Probatorik heraus, dass eine Psychotherapie indiziert ist, wenn die Kriterien für eine Diagnose nicht hinreichend erfüllt werden. Um die bestehenden Beschwerden dennoch zu lindern und der Entstehung psychischer Erkrankungen vorzubeugen, sind präventive Maßnahmen sinnvoll. Auch an dieser Stelle sind Online-Trainings nachweislich wirksam. Durch die Vermittlung des  Umgangs mit Stress und Belastungen können wissenschaftlich überprüfte Online-Trainings erwiesenermaßen die psychische Gesundheit fördern. 

Bei einer geringen Ausprägung vorhandener Symptome, z. B. bei einer leichten depressiven Episode, kann eine aktiv-abwartende Begleitung (watchfull waiting) einen ersten Behandlungsschritt darstellen. Neben Gesprächen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Grundversorgung werden im Sinne der Behandlungsrichtlinien für unipolare Depressionen an dieser Stelle auch niedrigschwellige Interventionen, wie empirisch gut belegte Online-Trainings, empfohlen. 

Ängste, Schlafschwierigkeiten oder riskanten Alkoholkonsum reduzieren – oft lässt sich mit den Patient*innen mehr als ein Behandlungsauftrag erarbeiten. Sich einem zentralen Thema zu widmen und dennoch die anderen Bereiche und Beschwerden nicht zu vernachlässigen, kann eine Herausforderung darstellen. Wissenschaftlich fundierte Online-Trainings bieten hier die Möglichkeit, spezifische Themen wie Schlafbeschwerden oder einen riskanten Alkoholkonsum parallel zum Therapiesetting zu behandeln. 

Die in der Therapie erzielten Erfolge auch über die Behandlung hinaus zu festigen, ist ebenso wichtig wie herausfordernd. Damit auch nach Abschluss der Therapie das Rückfallrisiko gering bleibt und sich die Erfolge festigen können, lohnt sich die Nachsorge. Neben einer Rückfallprophylaxe und Katamneseterminen kann es auch an dieser Stelle Sinn machen, Online-Trainings in die Nachsorge einzubinden. Online-Trainings, die explizit für diese Therapiephase entwickelt und zertifiziert wurden, greifen bewährte Komponenten der Selbstfürsorge und Rückfallprophylaxe auf und begleiten die Patient*innen für einen gewissen Zeitraum weiter.  
 

Kein Algorithmus kann so zuverlässig wie ein psychotherapeutisch geschulter Mensch erkennen, ob sich z. B. eine depressive Phase gerade verschlimmert.